
† 08.04.1998 in Berlin
Helena Scigala
Biografische Zwischenbilanz zu Leben und Werk / Zeittafel
I. Batow (heute polnisch Batowo):
01. März 1921
Geburt im Dorf Batow/Kreis Soldin(zeitgenössisch: Hinterpommern) als erstes Kind des besitzlosen Wander-und Landarbeiterpaares (zeitgenössisch: Schnitter) mit jüdischen Wurzeln Anna, geb. Hemer und Josef Scigala
II. Berlin-Pankow:
1927
Infolge wirtschaftlicher Not geben die Eltern ihre Tochter in das von Diakonissen geführte evangelische Waisenhaus SILOAH in Berlin-Pankow, woraufhin sie auch die Volksschule besucht
Januar 1933
Adolf Hitler wird Reichskanzler, die Weimarer Republik als Demokratie endet und Deutschland durchläuft die Umwandlung in eine Diktatur des Nationalsozialismus
September 1935
mittels der sogenannten Nürnberger Gesetze werden jüdische Menschen entrechtet und zu Bürgern zweiter Klasse degradiert
III. Havelland (Brandenburg) bei Berlin - Caputh und Beelitz:
1936
Abschluss der Volksschule im Alter von 15 Jahren
ab 1936
Antritt einer Stelle als Hausmädchen in Caputh bei Potsdam
September 1939
Mit dem Überfall auf Polen löst das Deutsche Reich den Zweiten Weltkrieg aus
vor Mai 1940
Höchstwahrscheinlich (aktuell nur mündliche Überlieferung seitens der Biografierten und im weiteren Lebensverlauf strenge Tabuisierung des Themas) kurzzeitige Verschleppung in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück nördlich von Berlin; infolge ihres angeblich „unjüdischen“ Aussehens wird die 19-Jährige nicht zur Zwangsarbeit in Ravensbrück eingeteilt, sondern nach Beelitz dienstverpflichtet.
ab Mai 1940
Dienstverpflichtung als Stationsmädchen im Komplex der Lungenheilstätten Beelitz bei Potsdam; ein Einsatz mit dem Risiko, sich bei der Krankenpflege durch Tröpfcheninfektion anzustecken
Ende April 1945
Beelitz und die Lungenheilstätten sind von der Roten Armee eingeschlossen; das nahegelegene Örtchen Ferch und die Heilstätten werden wieder von der Wehrmacht eingenommen
Mai 1945
Ende des Zweiten Weltkrieges mit deutscher Kapitulation
bis Mai 1946
Fortführung der Arbeit als Stationskraft in den Lungenheilstätten Beelitz; zuletzt wohnhaft in der Straße 45, Baracke 15
IV. Berlin-Pankow:
Mai 1946
Umzug als ledige Alleinstehende zur Untermiete bei der alleinstehenden Frau Reimann in die Wisbyer Straße 47 in Berlin-Pankow; in der polizeilichen Anmeldung: Übernahme der diskriminierenden NS-Einstufung als „staatenlos“
Mai bis September 1946
Abeitseinsatz der angehenden Kunststudentin als Trümmerfrau und Aufbauhelferin an ihrem künftigen Studienort in Berlin-Weißensee
September 1946 bis März 1949
April 1949 bis Sommer 1951
Studium der Malerei und Grafik an der Hochschule für bildende Künste in Berlin-Charlottenburg (West-Berlin)
Oktober 1949
auf dem Territorium der sowjetischen Besatzungszone wird die Deutsche Demokratische Republik (DDR) mit Ost-Berlin als Hauptstadt gegründet
um 1950
Liebesbeziehung zu einem verheirateten Grafiker, von dem Helena Scigala ein Kind erwartet
August 1951
Umzug als ledige, alleinstehende Schwangere zur Untermiete bei Familie Seidemann in die Max-Koska-Straße 7 in Berlin-Pankow
Februar 1952
Dezember 1954
Beginn der Berufstätigkeit als selbstständige Grafikerin nach Bewilligung des Aufnahmeantrages in den Verband Bildender Künstler Deutschlands (VBKD 1950 bis 1970) bzw. den Verband Bildender Künstler der DDR (VBK 1970 bis 1990), dessen Mitgliedschaft sowohl für die Berufsausübung als auch für die Teilhabe an Ausstellungen unabdingbar war
Januar 1957
Umzug als ledige Alleinerziehende mit dem fast 5jährigen Sohn und erstmals im Status der Hauptmieterin; in eine sogenannte Atelierwohnung mit 41qm Fläche, gelegen im 4. Obergeschoß eines Neubaus in der Pestalozzistraße 26 in Berlin-Pankow
vor 1960
Hinwendung zur komplexen Technik des Farbholzschnittes, die schon allein durch die erforderlichen Einzeldrucke pro Farbe einen hohen Aufwand bedeutete und mit deren Weiterentwicklung sich Helena Scigala innerhalb der Künstlerschaft der DDR ein Alleinstellungsmerkmal erarbeitete
August 1961
die DDR-Regierung festigt mit dem „Mauerbau“ die Teilung Deutschlands
1960 bis 1970
fruchtbarste künstlerische Schaffensjahre mit Höhepunkten hinsichtlich der Produktion von Werken sowie hinsichtlich der Präsenz innerhalb von Medien und Ausstellungen; 1960: 3. Preis beim grafischen Wettbewerb der Partei Christlich-Demokratische Union (CDU) mit einem Zyklus über das Konzentrationslager Ravensbrück und 1964: 1. Preis beim Nachfolgewettbewerb mit dem Zyklus über den Arzt und Humanisten Albert Schweitzer (zeitgenössisch „Urwalddoktor“ genannt)

Liste der DDR-Künstlerinnen und -Künstler im 518 Seiten umfassenden Ausstellungskatalog der „IBA Leipzig 1965“ (Internationale Buchkunst-Ausstellung). Die hier Genannten waren unter den Bewerberinnen und Bewerbern seitens der DDR-Verantwortlichen ausgewählt worden, um das Land beim Wettbewerb „Grafik aus fünf Kontinenten – Freundschaft zwischen den Völkern“ im Rahmen der IBA repräsentieren zu dürfen.
Helena Scigala erlangte den Zugang zu dieser Leistungsschau mit Ausstellern aus über 70 Ländern, die an große Buchmesse-Traditionen vom Beginn des 20. Jahrhunderts anknüpfte, mit dem Zyklus über Albert Schweitzer. Auf diese Tatsache und auf die ihr übereignete Teilnahme-Urkunde war sie lebenslang besonders stolz.
1969-1972
Auftrag über den seinerzeit längsten Holzfries (Relief) der Welt als Objekt am Bau des sowjetischen Spezialitätenrestaurants „Baikal“ (siehe auch die Abbildung unter „Medienecho“ 1981) in Berlin-Mitte; Gesundheitsschäden an der rechten Hand infolge von Überbeanspruchung; die Arbeit mit folkloristischen Motiven muss unverschuldet zweifach ausgeführt werden, da sich das Holz für die erste Version als ungeeignet herausstellte

1972-März 1973
Antrag der Staatenlosen auf Erlangung der DDR-Staatsbürgerschaft, nachdem ihr ebenfalls staatenloser Sohn die Volljährigkeit erlangt hatte und dadurch von ihrem diesbezüglichen Status nicht mehr abhängig war; ein Zwangs-Gutachten des VBK befürwortet dieses Gesuch und die Verleihung erfolgt mittels Aushändigung der Staatsbürgerschaftsurkunde am 52. Geburtstag der Künstlerin
Juli 1973
im Alter von 52 gelingt Helena Scigala die Anmietung einer Zwei-Zimmer-Wohnung in der Pestalozzistraße 26 in Berlin-Pankow im gleichen Haus und direkt unterhalb des Ateliers, welches sie nach dem Auszug des Sohnes wieder alleinlebende, selbstständige Künstlerin weiterhin anmietet
1974 und 1978
Juli 1976
Eintritt in die an christlichen Werten orientierte, sozialistische Blockpartei CDU, in deren Umfeld und für deren Institutionen sie bereits seit 1959 künstlerisch tätig war
1977
staatlicher Auftrag zur grafischen Ausgestaltung der Musikschule in Berlin-Pankow, nachdem sie mittels Netzwerkkontakten um diesen gerungen hatte
März 1981
Erreichung des regulären Rentenalters für Frauen; nahtlose Fortführung der selbstständigen künstlerischen Tätigkeit: auch wegen der vergleichsweise niedrigen Rente und den daraus resultierenden materiellen Sorgen, wie private Korrespondenzen belegen
November 1989
u.a. infolge anhaltender Massenproteste der DDR-Bevölkerung fällt die Berliner Mauer und die deutsche Teilung kann aufgehoben werden; die DDR übernimmt als sogenanntes Beitrittsgebiet neben der bundesrepublikanischen Währung zeitnah auch Verfassung, Gesetze und Sozialsysteme - mit ganz individuellen Vorteilen und/oder Verwerfungen für ihre Bevölkerung
nach 1990
Dominanz von Konflikten aus dem Bereich Rente und soziale Absicherung, von Passivität bei der Mängelbeseitigung seitens der Vermietungsgesellschaft sowie von körperlichen Beschwerden im Leben von Helena Scigala
1997
Krankenhausaufenthalte
Januar 1998
Verlegung als Patientin in ein Altenpflegeheim des Evangelischen Diakonissenhauses Berlin-Teltow am Standort Berlin-Pankow
08. April 1998
Tod im Alter von 77 Jahren in Berlin-Pankow; dem Wunsch der Verstorbenen entsprechend, erfolgt die Beisetzung auf einer Friedhofswiese in Berlin
Aus dem Kondolenzschreiben von Christian und Jutta Gaebler vom 22. April 1998: „[Sie] ist gegangen, so, wie sie gelebt hat: leise, freundlich, bescheiden. […] [Sie] hatte es bestimmt nicht leicht und bequem in ihrem Leben, und doch war ihr Gesicht nie verbittert, sondern hatte immer etwas Freundliches, fast ängstlich Lächelndes.“
